Uneinheitliches Wachstumsbild
Die aktuellen Konjunkturindikatoren deuten auf ein weiterhin konstruktives makroökonomisches Umfeld hin. Mit den USA und China haben die beiden grössten Volkswirtschaften der Welt bereits ihre Schätzung für das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 1. Quartal 2024 publiziert. Das chinesische BIP ist in den ersten drei Monaten des Jahres mit annualisierten 6.4% deutlich über Potenzial gewachsen, während sich das Wachstum in den USA von 3.4% auf 1.6% verlangsamt hat. Auch die zugrunde liegenden Vorlaufindikatoren deuten auf eine Abschwächung der Wachstumsdynamik in den USA hin. Im Gegensatz dazu befindet sich die Eurozone an einem ganz anderen Punkt im Konjunkturzyklus. Nach einem Jahr der Stagnation kündigen diverse Frühindikatoren eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft an, und die meisten Daten der vergangenen Monate haben die Erwartungen vieler Ökonominnen und Ökonomen übertroffen. Insbesondere der Pessimismus gegenüber der deutschen Wirtschaft hat sich gelegt. Trotz struktureller Probleme scheint die grösste Volkswirtschaft des Euroraums die konjunkturelle Talsohle durchschritten zu haben.
Regionale Divergenzen in einem volatilen Umfeld
Das Zusammenspiel von Wachstum, Inflation und Geldpolitik deutet für die USA auf einen reifen Konjunkturzyklus hin. Eine Konjunkturphase, in der Anleihen typischerweise stärker gefragt sind als Aktien. Demgegenüber steht die Eurozone mit einer bereits durchlaufenen konjunkturellen Schwächephase eher am Beginn einer Erholung. Zudem hat die EZB bereits mit Zinssenkungen begonnen. Sollte die Erholung in Europa in Gang kommen, dürfte dies die Vorteile des europäischen Aktienmarktes, darunter eine niedrigere Bewertung und eine zyklischere Ausrichtung als der US-Markt, begünstigen. Die Konstellation ist fragil, und die Weltwirtschaft darf insgesamt nicht enttäuschen. Davon gehen wir aus, wobei die volatile Inflation hin und wieder für «Stagflationsmomente» sorgen wird.
Die USA sind strukturell schwer einzuholen
Die Vorteile Europas gegenüber den USA hinsichtlich der Konjunkturdynamik, der Geldpolitik und den Bewertungen an den Finanzmärkten sind allerdings nicht dauerhaft. Zum einen ist Europa auf eine robuste globale Weltwirtschaft angewiesen. Das US-Wirtschaftswachstum macht rund ein Viertel des Welt-BIP aus. Eine Beschleunigung der Weltwirtschaft bei gleichzeitiger Abkühlung in den USA ist daher eher die Ausnahme als die Regel. Zum anderen ist der strukturelle Vorsprung der USA aufgrund der besseren Position in den zukunftsträchtigen Technologien wie der künstlichen Intelligenz nicht mehr aufzuholen. Die Produktivitätskurve der USA ist deutlich steiler als die der Eurozone, während die Entwicklung der Lohnstückkosten vergleichbar ist (vgl. Grafiken 1 und 2). Das bedeutet wiederum, dass die USA in der Produktion gleich teuer sind wie die Eurozone, aber mehr aus den eingesetzten Ressourcen herausholen. Fazit: Kurzfristig darf man sicherlich mit einer besseren Performance der Eurozone gegenüber den USA liebäugeln. Dies ist aber keine beständige Konstellation.
Grafik 1: Produktivität: Die USA haben die Nase vorn
Total labour productivity, indexiert: Mai 2004 = 100
Grafik 2: Lohnstückkosten: Japan ist am effizientesten
Unit labour costs, indexiert: Mai 2004 = 100