Herr Stadelmann, können Sie in einfachen Worten erklären, was die Dätwyler Gruppe herstellt?
Unsere Firmenchronik trägt den Titel «Die Kraft der unscheinbaren Dinge». Das finde ich sehr treffend. Denn unzählige, zumeist unscheinbare Produkte von uns finden sich in vielen Bereichen der Gesundheit, Sicherheit, des Konsums und der Mobilität. Zum Beispiel sind in jedem zweiten Auto weltweit Teile von Dätwyler eingebaut. In der Schweiz stellen wir Präzisionsgummiteile für Autos her oder Glasfaserkabel, die für schnelles Internet gebraucht werden. Ausserdem machen wir Nespresso-Kapseln. Anfangs waren wir nur für die Dichtung der Kapseln zuständig: Dazu tragen wir eine dünne Schicht Silikon auf die Kapseln auf. Dann hatten wir die Möglichkeit, einen weiteren Arbeitsschritt zu übernehmen. So stellen wir heute einen grossen Teil der Kapseln her, indem wir das Aluminium tiefziehen. Aber wir müssen immer überlegen, wie wir es noch besser machen und innovativ sein können – sonst werden wir von anderen Anbietern überholt.
Sie sprechen von Innovationen – wie muss man sich diese vorstellen?
Seit Kurzem stellen wir eine neue Art Kaffeekapseln her: Sie sind etwas grösser und haben einen aufgedruckten Barcode. So weiss die Kaffeemaschine genau, welcher Kaffee in der Kapsel steckt und mit welcher Wassertemperatur die Aromen am besten zur Geltung kommen. Es ist ein Produkt im Hochpreissegment, bei dem wir mit unserer hohen Verarbeitungsqualität punkten können.
Gibt es noch weitere Beispiele?
Die Dätwyler IT Infra liefert nicht mehr nur die Kabel selbst, sondern die ganze Infrastruktur, die für den Aufbau eines Rechenzentrums benötigt wird. Wir bauen das Zentrum auf und übergeben es dem Kunden schlüsselfertig.
1915 wurde die Dätwyler als Kabel- und Gummifabrik gegründet. Stellen Sie noch einfache Kabel her?
Nein. Wir mussten uns Nischen suchen. Mittlerweile gibt es Länder, die gewöhnliche Kabel in gleich guter Qualität herstellen, nur billiger. Wir haben uns auf hochwertige Kabel spezialisiert. So stellen wir hochwertige Datenkabel, Sicherheitskabel und Liftkabel her. Die Anforderungen dafür sind hoch: Die Liftkabel transportieren die ganzen IT-Informationen, etwa wenn jemand einen Knopf im Lift drückt, eine automatische Durchsage kommt oder das Licht angeht. Die Kabel müssen robust sein und dürfen sich im Liftschacht nicht verdrehen, wenn sie zusammen mit dem Lift hoch- und runterfahren – selbst nach tausend und mehr Fahrten. Auch im Gotthardtunnel liegen Dätwyler-Kabel. Sie sind Teil der Tunnel-Infrastruktur und müssen ebenfalls hohen Sicherheitsstandards genügen und beispielsweise feuerfest sein. Zudem durften wir neben dem Bundeshaus auch die Allianz-Arena in München und den Burj Khalifa in Dubai mit unseren Kabeln ausstatten.
Das heisst, die einstige «Gummi» – wie sie auch heute noch von den Urnern genannt wird – ist inzwischen zu einer Hightech-Firma geworden?
Ja, definitiv. Von der Produktion von Kupferdrahtkabeln und Fahrradreifen hin zu Dichtungstechnik, Pharmaverpackungen und Glasfaserkabeln.
Wie kommt das im Bergkanton Uri an?
Sehr gut! Wir beschäftigen in unseren Werken in Altdorf und Schattdorf rund 900 Mitarbeitende. Damit sind wir der grösste Arbeitgeber im Kanton. Die meisten Mitarbeitenden leben in der Region. Die Dätwyler Gruppe ist seit über hundert Jahren im Kanton verankert. Wir engagieren uns via die Dätwyler Stiftung auch stark bei Sport- und Kulturanlässen im ganzen Kanton. Zudem leistet die Firma auch Frondienste: Einmal im Jahr geht die Belegschaft das «Land scheenä» auf dem Urnerboden, das heisst, sie säubern die Alpweiden von Steinen.
Wie finden Sie die nötigen Fachkräfte für die Werke in der Schweiz?
Es gibt verschiedene Faktoren, die dazu beitragen. Zum einen sind die Mitarbeitenden sehr treu. Viele bleiben über mehrere Jahrzehnte in der Firma. Ich gratulierte einmal einem Mitarbeiter, der sein 50-jähriges Firmenjubiläum feierte. Er hatte bei seinem Eintritt ein ärztliches Attest gebraucht, das ihm bescheinigte, körperlich fit genug zu sein für die Arbeit. Schliesslich war er damals erst 15. Zum anderen bilden wir selbst Nachwuchs aus, zum Beispiel Polymechaniker. Natürlich sind wir auch immer auf der Suche nach neuen Fachkräften. Gerade im Bereich Kunststofftechnologie müssen wir oft im Ausland rekrutieren: Es gibt in der Schweiz gar keine solche universitäre Ausbildung.
Lassen sich diese Fachkräfte einfach überzeugen, in den Kanton Uri zu ziehen?
Es gibt bei manchen schon eine Hemmung, weil sie glauben, dass wir etwas gar arg in den Bergen leben. Aber das täuscht. In einer halben Stunde ist man in Luzern oder in einer Stunde in Zürich. Manche ziehen es vor zu pendeln. Ausserdem gibt es viele, die es schätzen, die Berge und den See so nahe zu haben.
Wie kamen Sie in den letzten Jahren mit der Corona-Situation zurecht?
Eigentlich ganz gut – zumindest in der Schweiz. Wir mussten die Produktion anpassen, sodass immer fixe Teams zusammenarbeiteten – und die Leute nicht zwischen den Teams rotierten. Wenn eine Person positiv getestet wurde, schickten wir das ganze Team in Quarantäne und ein anderes konnte an seiner Stelle eingesetzt werden. Die Mitarbeitenden mit Bürojobs hatten es einfacher – sie gingen ins Homeoffice.
Und im Ausland?
Da spüren wir die Pandemie immer noch. In China zum Beispiel, wo wir auch Werke haben, gelten noch sehr restriktive Einreisebestimmungen. Techniker, die in das Werk möchten, müssten fünf Wochen in Quarantäne. Das ist einfach nicht machbar. Deshalb haben wir flexible Lösungen gesucht.
Wie sehen solche flexiblen Lösungen aus?
Wir haben in unserem Werk in Indien zum Beispiel einen Monteur mit einer Bodycam ausgestattet. Unsere Monteure in Europa konnten die Maschinen im dortigen Werk durch seine Kamera sehen und ihm Anweisungen geben, an welcher Schraube er drehen musste. Diese Kontrollen sind sehr wichtig, damit wir unseren Produktionsstandard auch in anderen Ländern halten können.
Sie verwalten die Pensionskasse der Dätwyler. Wie viele Menschen vertrauen Ihnen ihr Geld an?
Wir haben über 820 aktive Mitglieder und 580 Rentner. Die Kasse umfasst ein Vermögen von rund 450 Millionen Franken.
So viel Geld zu verwalten – ist das manchmal auch eine Bürde?
Ja, klar. Besonders wenn die Aktienmärkte korrigieren wie bei der Finanzkrise 2008/09. Oder kürzlich, als Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Aber wir verfolgen eine langfristige, breit diversifizierte Anlagestrategie und können auf ein solides Anlagereglement zurückgreifen. Ausserdem verfügen wir über Wertschwankungs-Reserven, die uns über solche Phasen hinweghelfen.
Sie arbeiten in einem 60-Prozent-Pensum als Pensionskassen-Verwalter – wie schaffen Sie das?
Wir haben die Prozesse so weit wie möglich schlanker gemacht. Als ich vor 20 Jahren anfing, gab es noch vier verschiedene Pensionskassen für die Mitarbeitenden. Heute haben wir eine. Zudem kann ich auf die Unterstützung meines tatkräftigen Teams zählen. Unser Credo lautet «einfach und pragmatisch», wir bieten nur eine Pensionskassen-Lösung an – und nicht verschiedene Varianten. Das reduziert die Komplexität. Ausserdem hat sich der Bestand der Mitarbeitenden durch die Automatisierung reduziert. Ich weiss von meinem Vorgänger, dass die Werke in Uri einst doppelt so viele Mitarbeitende zählten.
Sie sprechen die Vergangenheit an. In Sachen Pensionskasse war die Dätwyler eine Vorreiterin: Bereits 1948 gründeten Dätwylers eine Pensionskasse für ihre Arbeiter – lange bevor es Pflicht wurde.
Ja, das stimmt. (Urs Stadelmann zeigt uns das originale Pensionskassen-Reglement von 1948.) Der patronale Gedanke war schon früh da: Die Chefs wollten für ihre Belegschaft vorsorgen und kümmerten sich um sie. Sie errichteten Reihenhäuser an der Dätwylerstrasse und bauten im Verwaltungsgebäude ein Schwimmbad für ihre Mitarbeitenden – es hiess, dass damals viele Urner noch nicht schwimmen konnten. In dem Becken sollten sie die Gelegenheit haben, es zu lernen.
Sie betreuen eine mittelgrosse Pensionskasse. Inwiefern profitieren Sie von der Erfahrung der Swisscanto Anlagestiftungen als Partner?
Die Swisscanto Anlagestiftungen stellen Anlagelösungen zur Verfügung, die für uns passen. Es ist eine Art Selbsthilfe-Organisation: Wir können uns über sie mit anderen Pensionskassen zusammenschliessen und eine grosse Einkaufsgemeinschaft bilden. Wir vergeben keine Vermögensverwaltungsmandate, sondern verwenden einzelne Bausteine. Dabei steht die Rendite der Produkte im Vordergrund, aber wir begrüssen es sehr, dass die Nachhaltigkeit ein wichtiger Bestandteil von Swisscanto ist.
Nebst der Pensionskasse haben Sie noch andere Aufgaben in der Firma. Welche sind das?
Ich unterstütze die Firma bei Akquisitionen. Kürzlich haben wir ein amerikanisches Unternehmen mit über 1’000 Mitarbeitenden gekauft, das Silikondichtungen für Steckverbindungen bei Elektroautos herstellt. Ausserdem bin ich für sämtliche Versicherungen der Gruppe zuständig. Besonders aktuell sind Cyberversicherungen, die uns bei Hackerangriffen schützen. Weiter bin ich für die internationalen Steuern, Transferleistungen und Kostenverrechnungen verantwortlich, da kommt mir meine Erfahrung als Wirtschaftsprüfer zugute.
Das tönt herausfordernd. Also kein Nine-to-five-Job?
Nein, definitiv nicht. Ich bin ein Frühaufsteher und meist um 7 Uhr im Büro. Sitzungen mit Fachleuten in China und Indien beginnen um 8 Uhr wegen der Zeitverschiebung. Jene mit den USA finden klassischerweise nach 16 Uhr statt – die Amerikaner stehen dafür um 5 Uhr morgens auf. Abends arbeite ich in der Regel bis 18 Uhr. Aber zugegeben, manchmal nehme ich Unterlagen mit nach Hause.
Und am Wochenende?
Da habe ich frei. Jedenfalls meistens. Es ist in unserer Firmenkultur verankert, dass man sich am Wochenende eine Pause gönnt.
Wie erholen Sie sich?
Ich gehe über Mittag meistens nach Hause zu meiner Familie essen! Es ist ein grosses Privileg für mich, mit meiner Frau und den beiden Kindern Zmittag essen zu können. Am Wochenende bin ich gerne mit meiner Frau zusammen auf dem E-Bike unterwegs, zum Beispiel auf dem Schattdorfer Hausberg, dem Haldi. Ich wandere auch sehr gern. Der Kanton Uri ist ja ein wahres Wanderparadies. Im Winter fahre ich natürlich auch viel Ski. Nur im Urnersee bin ich nicht so oft. Ich bin eher der Bergler.
Eine letzte Frage: Auf dem Firmenparkplatz habe ich die Autokennzeichen UR 1, UR 2 und UR 3 entdeckt. Kann das Zufall sein?
Nein (lacht). Die Nummern UR 1, 2, 3 und 7 gehören der Firma und dürfen von den Verwaltungsräten und Konzernleitungsmitgliedern benutzt werden, solange sie ihr Amt ausüben. Diese Konzentration ist in der Schweiz wohl einzigartig. Dies hat mit unserem Firmengründer Adolf Dätwyler zu tun. Er war begeistert von der Technik und hat deshalb schon sehr früh Autos gekauft.