Ein langer Atem und eine funktionierende Familiengemeinschaft prägen das 200-jährige Traditionshaus

Lucas Locher, Vertreter der sechsten Generation, hat die Geschäftsleitung des Familienunternehmens Leder Locher AG im vergangenen Jahr abgegeben. Heute konzentriert er sich auf das Amt des Pensionskassenleiters. Mit Sonja Spichtig spricht er über die bewegten Zeiten des Traditionshauses am Zürcher Münsterhof, das seit bald zwei Jahrhunderten stilvoll Reisende mit qualitativ hochwertigen Accessoires verwöhnt.

Herr Locher, wie ist es, zu einer Unternehmerfamilie zu gehören, deren Geschäft Zürcherinnen und Zürchern geradezu als Institution für stilvolle Accessoires gilt?

Es bedeutet auf jeden Fall nicht, ins gemachte Nest geboren zu werden! Ich habe erst einmal eine Lehre zum Metallbauschlosser absolviert, aber schon während der Lehre am Wochenende in der Gastronomie gejobbt, um Geld zu verdienen. Damit finanzierte ich mir Reisen nach Ecuador, um eine junge Dame zu besuchen, die als Austauschschülerin in Zürich mein Herz erobert hatte. Fernbeziehungen gab es damals schon – wobei sie unendlich viel komplizierter waren. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie ein Briefwechsel aussieht, bei dem die Botschaften jeweils fünf Wochen lang unterwegs sind. Wir haben das fünf Jahre lang durchgehalten – und sind heute noch verheiratet.

Sonja Spichtig im Gespräch mit Lucas Locher, Leiter der Personal-Stiftung der Leder Locher AG

Sie waren von 2000 bis 2020 in der Geschäftsleitung und ab 2010 Geschäftsführer der Leder Locher AG. Wann und warum sind Sie in die Fussstapfen Ihres Vaters und all der anderen Vorväter getreten?

Das hing mit einer Diagnose zusammen, die ich vor rund dreissig Jahren erhielt: Multiple Sklerose. Vorher hatte ich jahrelang einen Gastrobetrieb geleitet, später bei SR Technics gearbeitet, doch dann war klar, dass ich eine körperlich weniger belastende Arbeit brauchte. Auswandern nach Ecuador oder eintreten ins Familiengeschäft – das waren die für mich denkbaren Optionen. Inzwischen hatte ich auf dem zweiten Bildungsweg das KV und eine Managementausbildung nachgeholt und konnte die Stelle des Buchhalters übernehmen, der gerade in dieser Zeit in Pension ging.

Hat sich damals Ihr Blick auf die Familiengeschichte verändert?

Bei der Durchsicht der Firmenchroniken haben mich die Berichte aus den Kriegs- und Zwischenkriegsjahren ganz besonders beeindruckt. Damals musste das Geschäft ähnlich schwierige Zeiten überstehen wie wir heute. Unsere letzten eineinhalb Jahre waren leider überschattet von Filialschliessungen. Der Detailhandel hat vor Corona schon stark gelitten, doch die Pandemie hat alles noch schwieriger gemacht. In den Chroniken entdeckte ich: In den Kriegsjahren waren meine Vorfahren unglaublich erfinderisch – lange bevor Innovation ein Begriff war. Damals wurde im Nachbarhaus ein Engrosmarkt für Lederwaren eingerichtet und man entwickelte neu auch Produkte für Tiere, Hundehalsbänder und -leinen etwa oder Halfter für Kühe und Pferde. Die Parallele zur neu erwachten Tierliebe der Schweizer während der Pandemie fasziniert mich. Ist es nicht interessant, dass sich die Menschen in Krisenzeiten damals schon – und heute wieder – vermehrt Tieren zuwenden?

Was denken Sie, woran liegt das?

Vielleicht spenden Tiere ihnen Trost oder ein bisschen Sicherheit. Wegen der notwendigen Isolation möchten einige Menschen vielleicht mehr Nähe spüren oder auch einfach wieder in Bewegung kommen.

Es ist ja höchst erfreulich, dass wir wieder schöne Geschäfte besuchen dürfen wie dieses hier am Münsterhof! Gehört das Haus der Familie?

Ja, die Hausnummern 18 und 19 – wir nennen sie «das gelbe und das graue Haus» – sind immer noch im Besitz der Familie respektive der «Gemeinderschaft». Diese Sonderform der Erbengemeinschaft wurde einst gewählt, um den Besitz nach dem Tod des Gründers nicht aufzuteilen, sondern gemeinsam weiterzuführen. Die rund 200 Mitglieder der Familie Locher – übrigens teilweise weit über den Erdball verstreut – bilden eine der letzten noch funktionierenden Gemeinderschaften in der Schweiz.

Lucas Locher, Vertreter der sechsten Generation, wünscht sich: ‘Leder Locher’ soll nicht nur der Grossmutter ein Begriff sein, sondern auch ihrer Enkelin.

Mit ihrem Neffen Valentino Velasquez führt jetzt ein Vertreter der siebten Generation das Geschäft.

Richtig! Es braucht junge Leute, die die heutigen Trends verstehen und ein jüngeres Publikum ansprechen. ‘Leder Locher’ soll ja nicht nur der Grossmutter ein Begriff sein, sondern auch ihrer Enkelin! Wir kämpfen leidenschaftlich um die junge, qualitäts- und umweltbewusste Kundschaft. Unsere Produktion haben wir vor Jahren aufgegeben, die Zusammenarbeit mit innovativen Designern und Ateliers jedoch verstärkt. Sie finden bei uns Taschen aus «veganen» Textilien – was früher übrigens einfach Kunstleder hiess – sowie Produkte aus neuartigen Materialien wie Apfelschalen, Bambus oder sogar gebrauchten Zementsäcken aus Kambodscha.

Nach Ihrem Rückzug aus dem operativen Geschäft bleiben Sie Leiter der Personal-Stiftung der Leder Locher AG. Was reizte Sie an diesem Amt?

Wir sollten eher von «Kässeli» sprechen, das Anlagevermögen der Kasse ist überschaubar. Ich bin nach und nach ins Thema hineingewachsen, geleitet von meinen welt- und sozialpolitischen Interessen. Die Kombination aus Finanz- und Realwirtschaft ist spannend, und noch mehr sind es deren Wechselwirkungen. Was am Finanzmarkt passiert, kommt früher oder später auch in der Realwirtschaft an.

Es ist ungewöhnlich, dass ein so kleines KMU eine unabhängige Kasse führt.

Natürlich muss die Frage gestellt werden – und wir stellen sie uns regelmässig – ,ob wir uns nicht besser einer Sammelstiftung anschliessen. Bisher haben wir davon abgesehen, weil uns die Nähe zu den Mitarbeitenden wichtig ist. Sie sind froh, sich mit ihren Fragen an jemanden wenden zu können, den sie kennen. Je älter sie sind, desto öfter kommen sie mit Fragen zu mir. Mein Grossvater, dem das Wohl der Arbeitnehmenden sehr am Herzen lag, hat jeweils gesagt: «Wir können keine hohen Löhne bezahlen – also versuchen wir bei den Lohnnebenkosten so viel wie möglich für unsere Mitarbeitenden herauszuholen.» Der Arbeitgeberbeitrag lag bei uns früher bei 80 und heute bei immer noch grosszügigen 60 Prozent.

Das Traditionshaus am Zürcher Münsterhof verwöhnt seit bald zwei Jahrhunderten stilvoll Reisende mit qualitativ hochwertigen Accessoires.

Auf der Firmenwebsite ist zu lesen, «The Locher Way» zeichne sich unter anderem aus durch eine ordentliche Prise Humor. Ist das auch Ihr Motto?

Ich bin auf jeden Fall ein positiv denkender Mensch. Negativ zu denken führt zu nichts. Vielleicht ist dies einfach mein Naturell, vielleicht wurde mir durch meine Geburt in Peru etwas von der südamerikanischen Lebensfreude eingeimpft. Als ungeduldiger Mensch stolpere ich manchmal, weil ich meine Behinderung vergesse und nicht genügend langsam gehe – für meine jeweilige Begleitung kann dies unangenehm sein, doch ich lache darüber. Ein guter Freund, ein Judoka, hat mir gezeigt, wie ich leichter falle. Ich verletze mich höchstens an den Händen, nie am Kopf.

Mir scheint, diese Kraft, einen Fall zu überstehen und rasch wieder aufzustehen, zieht sich auch durch die Firmengeschichte der Leder Locher AG. Was wünschen Sie dem Unternehmen zum 200-jährigen Jubiläum im kommenden Jahr?

Sie haben recht: unsere Geschichte war alles andere als ein ruhiger Fluss. Heute befinden wir uns wieder in turbulenten Gewässern. Ich wünsche uns allen, dass wir nächstes Jahr miteinander feiern und an die guten alten Zeiten anknüpfen können – mit guten neuen Zeiten.

Danke, Herr Locher, für das Gespräch und den Wunsch – dem wir uns natürlich sehr gerne anschliessen.

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